Petrus aber sprach zu Jesus: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen.

 

Er aber sprach: Petrus, ich sage dir: Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, daß du mich kennst.

 

 

 

Nur wenige Stunden später…

 

 

 

Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und alsbald, während er noch redete, krähte der Hahn.

 

Und der Herr wandte sich und sah Petrus an. Und Petrus gedachte an des Herrn Wort, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.

 

Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.

 

 

 

 

 

Liebe Gemeinde,

 

ich hätte heute lieber etwas zur anstehenden Bundestagswahl gemacht. Die Predigt für jeden normalen Sonntagsgottesdienst hätte ich in den Papierkorb geworfen, um etwas über das Steigbügelhalten des Friedrich Merz zu predigen.

 

Und wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, hätte ich mich auch am liebsten um das Thema sexueller Missbrauch gedrückt.

 

 

 

Seit Erscheinen der Forumstudie zum sexuellen Missbrauch in der Evangelischen Kirche muss ich mich damit beschäftigen.

 

 

 

Und wenn man das tut, dann sieht man plötzlich.

 

Man sieht das, was man vorher nicht sehen wollte.

 

 

 

In erträgliche Portionen musste ich mir die Recherchen einteilen, denn bei mehr als einem Bericht bin ich an meine eigenen Grenzen gestoßen, dessen was ich ertrage. Und ich habe es nur gelesen und gehört. Ich musste es nicht am eigenen Körper und an eigener Seele erfahren.

 

Diese Grenzen, an die ich gestoßen bin, haben mich verstehen lassen, warum so viele Fälle so lange nicht ans Licht gekommen sind. Denn ich bin mir sicher, dass ich nicht der einzige bin, der am liebsten nicht sehen will.

 

 

 

Ich habe als Titel für diesen Gottesdienst ein Zitat von Gisèle Pelicot gewählt.

 

Die Scham muss die Seite wechseln!

 

 

 

Gisèle Pelicot wurde von ihrem Mann unter Drogen gesetzt und Männern zur Vergewaltigung angeboten und er hat das Ganze auch noch gefilmt. Mindestens 82 Männer haben sein Angebot angenommen.

 

Gisèle Pelicot hat darauf bestanden, dass der Prozess öffentlich wird. Sie hat die Größe besessen, mit ihrem Namen und ihrem Gesicht in die Öffentlichkeit zu treten.

 

Sie hat sogar darauf bestanden, dass die Videoaufnahmen gezeigt werden, in denen sie vergewaltigt wurde.

 

Hätte sie nicht diesen Mut bewiesen, dann hätten wir in Deutschland wahrscheinlich nicht einmal etwas von diesem Prozess erfahren.

 

Die Scham muss die Seite wechseln.

 

 

 

Ich war gestern bei Norbert Henze zu Besuch. Das ist sein richtiger Name und er möchte auch nicht anonymisiert werden.

 

Ich bin bei meiner Recherche zum Missbrauchsgottesdienst im vergangenen Jahr auf ihn gestoßen.

 

Er war in den 50er Jahren als Heimkind durch einen Pastor auf einen Bauernhof vermittelt worden. Es war die Gemeinde Elsdorf, in der ich ein Jahr als Springer eingesetzt war.

 

 

 

Ich hatte damals Anhaltspunkte, dass dort etwas nicht korrekt gelaufen sein musste, bin aber im Dorf damals auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Und ich habe es damals nicht weiter verfolgt. Erst im letzten Jahr habe ich den Fall bei der Aufarbeitungsstelle der Landeskirche gemeldet. Und habe erfahren müssen, dass die Landeskirche mindestens seit 2014 darüber informiert war.

 

Ich habe meine Aufgabe als Pastor dort nicht erfüllen können, weil diese Information zurückgehalten wurde.

 

Als ich nachfragte, warum weder ich, noch der Kollege, der nach mir diese Gemeinde 10 Jahre lang betreut hat, nicht informiert wurde, bekam ich diese Antwort:

 

Der bekannte Fall sexualisierter Gewalt, auf den Sie sich aktuell beziehen, in dem ein ehemaliges Heimkind im Jahr 2014 einen Antrag auf Anerkennungsleistungen für das erfahrene Unrecht gestellt hatte, wurde Ihnen während Ihres Dienstes in der Gemeinde nicht gemeldet, weil den Antragsteller*innen für die Anerkennungsleistungen zwar keine vollkommene Anonymität zugesichert werden kann, aber höchste Vertraulichkeit in der Datenverarbeitung.

 

 

 

Ich habe die Antwort nicht gleich bekommen. 3 Monate hat man mich warten lassen. Und erst nach mehreren Rückfragen bekam ich eine Mail, dass die Person, die ich in der Fachstelle sexualisierte Gewalt angeschrieben hatte, nicht zuständig sei, sondern andere.

 

Meine Mail war nicht automatisch an diese zuständige Personen weitergeleitet worden.

 

Ich musste die Anfrage also erneut stellen. Und bekam auch dort keine Antwort.

 

Erst nachdem ich das öffentlich berichtet habe, hat der Regionalbischof dafür gesorgt, dass ich eine Antwort bekomme. Ein einfacher Pastor wird wohl nicht gehört. Auch dass die Akten gesichert wurden, geschah erst, nachdem ich im letzten Jahr den Namen der Gemeinde öffentlich genannt habe. Ein paar der Akten wenigstens. Die 12 Kartons, die dort noch standen, sind erst abgeholt worden, als ich Druck gemacht habe.

 

 

 

Der Betroffene, dem so großzügig höchste Vertraulichkeit in der Datenverarbeitung gewährt wurde, war Norbert Henze. Sie können nachher einen Dokumentarfilm über sein Leben sehen und sich selbst ein Bild machen ob er auf diese angebliche Diskretion wohl wert gelegt hätte. In der Antwort aus dem Landeskirchenamt stand zumindest nicht, dass er sich das gewünscht hat. Zumindest semantisch bin ich da nicht belogen worden. Aber das ist dann auch schon alles.

 

Die übrigen Fragen, die ich in meiner Mail gestellt habe, sind mit vielen Worten und vor allem ausweichend erwidert worden.

 

 

 

Die Scham muss die Seiten wechseln.

 

Als Martin Watzlawik, Leiter der Forumstudie Ende vergangenen Jahres gefragt wurde, ob sein Team in irgendeiner Weise an der Umsetzung der Studienergebnisse durch die EKD in irgendeiner Weise beteiligt worden sei, konnte er kurz und knapp antworten: „NEIN“.

 

 

 

Die Scham muss die Seite wechseln

 

 

 

Ist das geschehen in unserer Kirche? Ist das ausreichend geschehen? Hat die Scham die Seiten gewechselt?

 

Was wirklich intensiv passiert ist seit Veröffentlichung der Forumstudie, das sind die Konzepte und Schulungen für Mitarbeiter und Ehrenamtliche. Viel Zeit, Energie und Geld wurde da aufgebracht um zu sensibilisieren.

 

Das war und ist richtig und wichtig. Aber damit wechselt die Scham nicht die Seiten. Was diese Schulungen im besten Fall erreichen, ist, dass es keine zweiten, dritten und noch mehr Leidtragende geben wird. Denn auch das gehört zu den Dingen, die ich bitter lernen musste: Es gibt keine absolute Sicherheit. Missbrauch kann vor ihren Augen geschehen und im Nachhinein erst erkennen sie es.

 

 

 

Die Scham muss die Seite wechseln

 

Die Forderung von Gisele Pelicot ist viel verlangt.

 

Diese Forderung bedeutet nicht allein, dass die Betroffenen von sexueller Gewalt nicht auch noch mit Scham konfrontiert werden sollten.

 

Diese Forderung zwingt uns, auch dazu zu fragen, bei wem denn die andere Seite ist.

 

Bei den Tätern. Ganz sicher.

 

 

 

Aber nicht nur. „Die Scham muss die Seiten wechseln“ heißt auch, uns unserer eigenen Scham zu stellen.

 

Denn sexuelle Gewalt findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern vor unserer aller Augen. In unseren Kirchengemeinden, im Sportverein, in der Nachbarschaft und statistisch am wahrscheinlichsten: in der eigenen Familie.

 

Und wenn wir die Augen verschließen, weil ein Ansprechen auch Konsequenzen für uns selbst haben würde, weil sich dann plötzlich ganz viel verändern wird in einem sozialen Gefüge - wenn wir dann die Augen verschließen aus falscher Scham und Feigheit, dann wird es auch unsere eigene Seite sein, auf die die Scham wechseln muss.

 

 

 

Jeder einzelne Fall, der in der Kirche geschehen ist und öffentlich wird, macht mir meine Arbeit schwerer, weil das Vertrauen in die Kirche belastet wird, die ich nach außen hin vertrete.

 

Wenn ich zu mir ehrlich bin, liegt die Scham schon auf meiner Seite.

 

Und es ist nicht die Scham, dass es sexuellen Missbrauch gegeben hat innerhalb der Kirche.

 

Es ist die Scham wie die Institution Kirche, der ich angehöre und die ich vertrete, mit den Fällen umgegangen ist.

 

Schamvermeidung durch Vertuschung. Jahrelang. Und wir sind immer noch nicht davon frei.

 

Es sind kleine Hinweise, dass wir als Institution immer noch versuchen der Scham auszuweichen. Eine kleine Fußnote im Oesedebericht zum Beispiel. Ich zitiere: „Die Prüfung dienstrechtlicher Konsequenzen, wie ursprünglich vom Kirchenvorstand der König-Christus-Gemeinde in Oesede angeregt, war nicht Gegenstand der Beauftragung“.

 

 

 

Ich habe nicht herausgefunden, wer dafür gesorgt hat, dass dieser Teil der Aufarbeitung explizit nicht Teil der Beauftragung sein sollte. Aber irgendwer muss das ja verhindert haben und hat dafür auch seinen ganz eigenen Grund.

 

 

 

Eine weitere Fußnote aus dieser Studie:

 

Das LKA hat im Jahr 2010 erhebliche Aktivitäten entwickelt, um das Thema sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend in der Landeskirche Hannovers zu bewegen. Die Glaubwürdigkeit dieser Aktivitäten wird durch das hier infrage gestellte ernsthafte Bemühen um Aufklärung im Fall Oesede beeinträchtigt“

 

 

 

Oder wir fragen jemanden, der selbst von sexualisierter Gewalt in unserer Kirche betroffen ist:

 

"Da braucht Kirche noch immer Monate, Jahre, Gremium A, Gremium B, Rückschluss da, dann muss da noch jemand unterschreiben, und hier haben wir noch jemanden nicht gefragt. Kirche nennt das Ganze Föderalismus und nennt das Ganze Demokratie. Ich nenne das Ganze Bürokratie, die dazu gedacht ist, zu verhindern, dass tatsächlich adäquate Zahlungen geleistet werden."

 

So Kerstin Krebs vor wenigen Tagen in einem Bericht des NDR.

 

 

 

Oder wir fragen unter meinen Kollegen diejenigen, die im vergangenen Jahr einen offenen Brief unterschrieben haben, in dem auch personelle Konsequenzen in der Leitungsebene gefordert wurden.

 

Die wurden nämlich zu ihrem jeweiligen Vorgesetzten zitiert. Passiert ist seitdem nichts in der Frage nach personellen Konsequenzen.

 

 

 

Ich habe den geistlichen Vizepräsidenten des Landeskirchenamtes gefragt, ob in seiner Hierarchieebene personelle Konsequenzen wenigstens einmal in Erwägung gezogen worden wären, bei demjenigen, bei dem die Oesedestudie das Vertuschen so deutlich verortet.

 

Nachdem ich diese Frage fünfmal stellen musste, bekam ich eine Antwort: Nein!

 

 

 

Disziplinarische Konsequenzen sind nicht einmal in Erwägung gezogen worden.

 

Der juristische Vizepräsident des Landeskirchenamtes Dr. Mainusch hätte doch zugegeben, dass er einen Fehler gemacht habe.

 

 

 

Wann und vor wem er einen Fehler eingestanden hat, habe ich jedoch nicht herausgefunden. Vor der Synode im vergangenen Jahr, als es um die Studien ging, durfte Dr. Mainusch reden - aber irgendetwas, das auch nur in die Nähe einer Entschuldigung kommt, habe ich in seinen Worten nicht vernehmen können.

 

 

 

Die Verantwortlichen in unserer Kirchenleitung sind Menschen. Und Menschen versuchen grundsätzlich Scham zu entgehen. Und je länger man Ausflüchte sucht, um der eigenen Scham zu entgehen, desto unmöglicher scheint ein Eingestehen der Scham zu werden.

 

 

 

Die Scham muss die Seite wechseln.

 

Auf welche Seite? Als allererstes weg von den Betroffenen. Dafür brauchen sie unsere Solidarität.

 

 

 

Bei den Tätern sollte die Scham sein. Aber das liegt nicht in unserer Hand. Und die Äußerungen der Verurteilten im Fall Pelicot haben gezeigt, dass die meisten Männer die Gisele Pelicot vergewaltigt haben, nicht dazu bereit waren.

 

 

 

Aber die Scham, die bei uns liegt, bei den Menschen, die es nicht gesehen haben, die es nicht sehen wollten, die Scham, der wir versuchen auszuweichen, die sollten wir endlich eingestehen.

 

Denn erst wenn wir uns diesen Schritt zu gehen trauen, können wir diese Scham überwinden. Und erst dann werden wir vielleicht wieder ernstgenommen in unseren Sonntagsreden.

 

Wenn wir uns nicht eingestehen, dass wir uns zu schämen haben für den Umgang mit Betroffenen,

 

dass wir uns zu schämen haben, weil wir Konsequenzen nicht gezogen haben,

 

wenn wir uns das nicht eingestehen, kann die Scham nicht die Seite wechseln.

 

 

 

Auf den Dächern fast jeder evangelischen Kirche ist ein Hahn.

 

Dieser Hahn ist biblisch. Dieser Hahn soll uns an Petrus erinnern und den Moment als seine eigene größte Scham offenbar wurde.

 

 

 

Petrus sprach zu Jesus: Herr, ich bin bereit, mit dir ins Gefängnis und in den Tod zu gehen.

 

Er aber sprach: Petrus, ich sage dir: Der Hahn wird heute nicht krähen, ehe du dreimal geleugnet hast, daß du mich kennst.

 

 

 

Nur wenige Stunden später:

 

 

 

Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und alsbald, während er noch redete, krähte der Hahn.

 

Und der Herr wandte sich und sah Petrus an. Und Petrus gedachte an des Herrn Wort, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen.

 

 Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.

 

 

 

Warum ist Petrus zum Oberhaupt der Kirche eingesetzt worden? Der scheinbar unfähigste der Jünger.

 

Weil er sich seiner Scham gestellt hat. Und daran erinnert uns der Hahn auf unseren Kirchendächern.

 

Wie laut muss der Hahn denn noch krähen, bis dass die Scham die Seiten wechselt?

 

 

 

Und der Frieden Gottes, der höher ist als all unsere menschliche Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.

 

Amen